Die Funktion der Erdatmosphäre, Berge als Pflöcke oder der Urknall – all das und mehr soll der Qur’an als naturwissenschaftliches Wunder verifizieren und so seinen göttlichen Ursprung beweisen. Die Prämissen hierbei sind, dass der Prophet Muhammad – Friede und Segen mit ihm – im 7. Jahrhundert keinen Zugang zu Astrophysik, Geologie, Kosmologie, Embryologie oder sonstigen Wissenschaften hatte und auch des Lesens und Schreibens unkundig war. Daher ist der Qur’an von Gott! In diesem Blog möchte ich die Problematik dieses trügerischen Argumentationsschemas erläutern.

Das Argumentieren mit scheinbar naturwissenschaftlichen Phänomenen im Qur‘an begann in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und wurde zu einer geradezu apologetischen Bewegung. Mit dem im Jahr 1976 veröffentlichten Buch Koran, Bibel, Wissenschaft des französischen Arztes Maurice Bucaille wurden die ersten Samen gesät, den Qur’an aus wissenschaftlicher Perspektive zu begründen. Darin erklärt der Autor die Widersprüche der Bibel zur Wissenschaft und hebt die atemberaubende Übereinstimmung des Qur’an mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen hervor. Es dauerte nicht lange, bis dieses Denken die islamische Welt erreichte, und es wurde sogar die Denkschule des Bucaillismus [1 ]gegründet. Der Ursprung dieser wissenschaftlichen Revolution in der Dawah wird vielen Jugendlichen nicht geläufig sein. Die Allermeisten kennen diese Argumente durch Vorträge und Debatten bekannter islamischer Prediger, wie Dr. Zakir Naik, Shaykh Yusuf Estes und andere. In gut gefüllten Hallen wird ein wissenschaftliches Wunder nach dem anderen präsentiert. Der Qur’an widerspreche keinem der wissenschaftlichen Fakten und sei mit allen Theorien kompatibel.

An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass dieser Blog in keiner Weise islamische Prediger diskreditieren soll. Vielmehr möchte ich eine jahrzehntelange problematische Entwicklung in der Dawah aufzeigen, deren Ursachen ich auf folgende Punkte zurückführe:

  • Trügerische Argumentation (nicht distribuierter Mittelbegriff)
  • Unbeachtete Geschichte
  • Induktionsproblem & Empirismus
  • Unwissenschaftliche Verse
  • Inkorrektes Verständnis der Verse

Trugschlüsse in der Argumentation

Ein Trugschluss ist ein ungültiges Argument, bei dem der aus den Prämissen abgeleitete Schluss nicht korrekt ist. Einige dieser wissenschaftlichen Wunder im Qur’an beinhalten den Trugschluss des „nicht distribuierten Mittelbegriffs“, auch bekannt als „Sophismus des kollektiven Mittelbegriffs“. Lassen wir jedoch diese hochtrabenden Begriffe beiseite und schauen uns ein klassisches Beispiel an:

P1: Johannes benötigt Sauerstoff, um zu überleben.

P2: Meine Katze benötigt Sauerstoff, um zu überleben.

S: Also ist Johannes meine Katze.

Wie man hier sehen kann sind die Prämissen 1 und 2 korrekt, der daraus gezogene Schluss jedoch nicht. Diese aus dem Qur’an krampfhaft abgeleitete trügerische Argumentation möchte ich anhand von zweien dieser wissenschaftlichen Argumente aufzeigen.

Embryologisches Wunder im Qur‘an

P1: Die Anheftung der Blastozyste an die Gebärmutterwand ist eine wissenschaftliche Tatsache in der Embryologie. Die Gebärmutterwand kann als ein gut geschützter Platz bezeichnet werden.

P2: Der Qur’an erwähnt den Begriff قَرَارٍ مَّكِينٍ „qararin makiin“ (23:13), das als „ein sicherer Platz“ übersetzt werden kann.

S: Also beschreibt der Qur’an die Anheftung der Blastozyste an die Gebärmutter.

Die Erdatmosphäre im Qur’an

P1: Die Erdatmosphäre schützt die Erde vor Meteoriten, absorbiert gefährliche ultraviolette Strahlungen und bewahrt die Erde vor den kalten Temperaturen des Weltalls. Diese wissenschaftliche Tatsache in der Geologie zeigt, dass die Erdatmosphäre die Funktion eines Schutzschildes hat.

P2: Der Qur’an erwähnt die Worte سَقْفًا مَّحْفُوظًا „saqfan mahfuzan“ (21:32), das als „wohlbehütete Decke“ übersetzt werden kann.

S: Also beschreibt der Qur’an die Funktion der Erdatmosphäre.

An diesen zwei Beispielen sehen wir die trügerische Argumentation. Isoliert betrachtet sind jeweils beide Prämissen korrekt, aber die selbst erstellte, auf die aktuelle Wissenschaft gerichtete Exegese ist nicht notwendigerweise von den Prämissen abzuleiten. Und hierin liegt eine große Unachtsamkeit gegenüber der klassisch-islamischen Exegese (Ilm at-Tafsir). Der Ausgangspunkt jeder Auslegung des Qur’an sollte basierend auf klassischen Werke geschehen, da jene Exegeten näher an den Primärquellen existierten und durch einen hermeneutischen Ansatz einen akkurateren Zugang hatten. Zeitgenössische Gelehrte wie Abd al-Aziz ibn Baz, Salih al-Uthaymin, Salih ibn Fawzan und andere haben daher diese wissenschaftliche Auslegung gewisser Qur’an-Verse als inkorrekt bezeichnet. [2] [3]

Unbeachtete Geschichte

Berge als Pflöcke

Wir finden im Qur’an einen Vers, der die geologische Entdeckung von Bergwurzeln beschreiben soll: „Haben wir nicht die Erde zu einem Lager gemacht und die Berge zu Pflöcken?” (78:6–7). Diese wie Pflöcke oder Wurzeln aussehenden Gesteinsschichten betragen teilweise die 10- bis 15-fache Größe des Berges. Der Begriff „Pflöcke“ soll sich auf diese Wurzeln beziehen.

Dass Berge Wurzeln haben, war jedoch schon Jahrhunderte vor der Offenbarung des Qur’an bekannt, nämlich im Alten Testament: „Bis zu den Wurzeln der Berge, tief in die Erde kam ich hinab; ihre Riegel schlossen mich ein für immer …“ [4] Das Schlüsselwort hierbei ist der hebräische Begriff לִקְצֵבי, der mit ‚Endpunkt‘, ‚tiefster Punkt der Erde‘ übersetzt werden kann und in einer poetischen Beschreibung auf die Wurzeln der Berge hinweist.

Selbst wenn die Juden diesen Vers nicht geltend gemacht oder ihn als naturwissenschaftliches Wunder interpretiert haben, kann nicht postuliert werden, dass dieses Wissen zur Zeit des Propheten Muhammad – Friede und Segen mit ihm – nicht präsent war.

Urknall

Jahrhundertelang ging man davon aus, dass das Universum schon immer existierte. Mit den unterschiedlichen Urknalltheorien wird heute jedoch der Beginn des Universums beschrieben, das aus einer Singularität entstand und stets expandiert. Der Qur’anvers, der den Beginn des Universums beschreiben soll, lautet: „Haben die Ungläubigen nicht gesehen, dass die Himmel und die Erde eine Einheit waren, die Wir dann zerteilten?“ (21:30). Der Qur’an soll hier mit „eine Einheit“ die Singularität und mit „zerteilten“ den Urknall erläutern.

Wir finden in sumerischen Schriften über König Gilgamesch ähnliche Aussagen, die den Beginn des Universums beinhalten. In der Erzählung von Gilgamesch, Enkidu und der Unterwelt heißt es: „Als die Himmel von der Erde getrennt worden waren, als die Erde von den Himmeln abgegrenzt worden war, als der Ruhm der Menschheit begründet worden war.“ [5] Wir sehen hier die Termini „separated“ und „delimited“, die in etwa mit „getrennt“ oder „abgegrenzt“ übersetzt werden können. Dieses Schriftstück wird auf das Jahr 2.600 v. Chr. datiert.

Zudem stellt sich die Frage, welches der 17 Urknall-Modelle hier beschrieben werden soll. Alle diese Modelle werden von denselben Daten abgeleitet, und dennoch werden verschiedene wissenschaftstheoretische Thesen aufgestellt.

Die Annahme, dass der Prophet Muhammad keinen Zugang zu diesem Wissen haben konnte, kann nicht belegt werden. Die Stadt Mekka war aufgrund von Pilgern und Durchreisenden ein Zentrum der Interkulturalität, in dem viele Kulturen aufeinandertrafen. Zudem finden wir in der prophetischen Tradition, dass unter anderem auch medizinisches Wissen von Römern und Persern übernommen wurde. [6]

Was nicht behauptet wird

Zu behaupten, der Prophet Muhammad – Friede und Segen mit ihm – hätte dieses Wissen reproduziert, um den Wahrheitsgehalt seiner Botschaft zu steigern, ist ebenso ein Trugschluss. Dies hatte der Prophet Muhammad zum einen nicht nötig, und zum anderen hat er in keiner Weise angeordnet oder angedeutet, diese Verse naturwissenschaftlich auszulegen.

Induktionsproblem & Empirismus

Was ist Wissenschaft? Mit einfachen Worten ist sie: „… der Versuch, unsere Welt zu verstehen, zu erklären und vorherzusagen.“ [7] Sie beschäftigt sich also mit: „… Natürlichem, Reproduzierbarem und gesetzlich Geregeltem.“ [8] Das wiederum heißt, dass sie beschränkt ist auf wiederholbare, empirische Beobachtungen und Experimente. Und durch diese einzelnen Beobachtungen werden allgemeingültige Gesetze aufgestellt, was sich Induktion nennt.

Das Induktionsproblem entsteht dadurch, dass diese Beobachtungen stets limitiert sind. Beispielsweise wird man nicht in der Lage sein alle Schwäne auf dem Planeten zu beobachten. Man hat eine limitierte Datensammlung von Schwänen und leitet daraus eine allgemeingültige Regel ab, beispielsweise, dass alle Schwäne weiß sind. Diese allgemeingültige Regel kann jedoch durch zukünftige Beobachtungen revidiert werden. Plötzlich steht ein schwarzer Schwan vor dir, und deine gut fundierte „Theorie“ erlebt einen Paradigmenwechsel. Das zeigt uns, dass wissenschaftliche Theorien keine Gewissheit oder hundertprozentige Wahrheit postulieren können. Sie bewegen sich in einem erneuerbaren Bereich, wodurch neue Erkenntnisse alte in den Schatten stellen können.

Was zeigt uns das? Es zeigt uns, dass der Zugang, den Qur’an, als zeitlose Offenbarung, im Licht eines in sich limitierten Instruments, der Wissenschaft, zu interpretieren, mangelhaft und nicht nachhaltig ist. Dieser Zugang wird früher oder später die islamische Dawah in eine sehr bedenkliche Situation führen. Nicht aufgrund einer antiwissenschaftlichen Haltung, sondern aufgrund eines Kategorienfehlers, da die Wissenschaft als Maßstab für wahr oder falsch angenommen wird. Jalees Rahman paraphrasiert diese Problematik folgenderweise: „Eine Gefahr solcher Versuche, die moderne Wissenschaft mit dem Qur’an in Einklang zu bringen, besteht darin, dass sie eine Verbindung zwischen der ewigen Weisheit und Wahrheit des Qur’an und den kurzlebigen Ideen moderner Wissenschaft herstellt.” [9] Es ist daher problematisch, die Wissenschaft als objektiven Maßstab heranzuziehen, um den Qur’an auf seine Gültigkeit hin zu beurteilen.

Unwissenschaftliche Verse

Zudem haben wir Verse im Qur’an, die ganz klar aktuell gut fundierten Theorien widersprechen. Eines davon ist die darwinsche Evolutionstheorie. Es wäre inkonsistent, eine der Urknalltheorien zu akzeptieren, aber die darwinsche Evolutionstheorie zu verneinen, obwohl letztere Wissenschaftlern zufolge in gleicher Weise bestätigt ist. Gott sagt im Qur’an: „Wir sprachen: ‚Geht hinunter von hier (dem Paradiesgarten) allesamt!‘ Und wenn dann zu euch Meine Rechtleitung kommt, brauchen diejenigen, die Meiner Rechtleitung folgen, weder Angst zu haben, noch werden sie traurig sein“ (2:38). In diesem Vers wird die Verbannung Adams und Evas aus dem Paradiesgarten beschrieben. Adam war entsprechend dem Konsens der islamischen Gelehrten der erste Mensch, er hatte keine Vorfahren. Der darwinsche Mechanismus hingegen behauptet, dass Menschen, Tiere, Pflanzen, Lady Gaga… aus einem gemeinsamen Urahn hervorgegangen sind.

Ein Kreationist würde losargumentieren und die Fossilbeweise, die Homologie und den Mechanismus angreifen. Aber als Muslime sollten wir nicht in diese Fußstapfen treten. Wir sollten auf Diskrepanzen zwischen den islamischen Quellen und aktuell gut fundierten Theorien gelassen reagieren. Wir sollten jene Errungenschaften als wissenschaftliche Theorien akzeptieren, ohne eine Notwendigkeit darin zu sehen, sie in unsere Glaubenslehre (Aqida) einfließen zu lassen. Und wenn eine Theorie missbraucht wird, um eine Agenda durchzuführen, die beispielsweise antitheistische Absichten mit sich bringt, dann sollten wir uns mit den Hintergedanken und Absichten dieser Ideologie auseinandersetzen, nicht jedoch die Theorie in Verruf bringen.

Das zeitlose Wunder

Die Erwähnung natürlicher Phänomene im Qur’an, soll, wie oben erläutert wurde, einem bestimmten Zweck dienen: die Fitrah zu erwecken. In fast jedem exegetischen Werk (Tafsir) zu diesen Versen wird davor oder danach auf die Omnipotenz oder Omniszienz Gottes hingewiesen. Sodass der Araber aus dem 8. Jahrhundert oder der Europäer aus dem 21. Jahrhundert ohne komplexe Wissenschaftsanalysen über diese Zeichen reflektieren und erkennen können, dass hinter dem embryonalen Vorgang, den gewaltigen Konstruktionen der Berge oder der kosmischen Gesetzmäßigkeit im Universum ein Erschaffer, Lenker und Designer steckt, der das Recht hat, angebetet zu werden.

Die unwiderlegbaren Wunder des Qur’an sind seine akkuraten Prophezeiungen über die Zukunft, seine linguistische Einzigartigkeit, seine Unnachahmbarkeit oder sein positiver Einfluss auf Millionen von Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaften. Diesbezüglich möchte ich jedoch in den kommenden Monaten einen ausführlicheren Blog veröffentlichen.

Korrektes Dawah-Verständnis

Es steht außer Frage, dass in einer persuasiven Diskussion ein naturwissenschaftliches Wunder im Qur’an faszinieren kann. Nichtsdestotrotz ist es in der Einladung zum Islam (Dawah) unerlässlich, die Wahrheit zu sprechen. Der Prophet Muhammad sagt in einer authentischen Überlieferung: „Berichtet über mich, sei es auch nur durch einen einzigen Vers, und erzählt uneingeschränkt über die Kinder Israels. Wer aber mit Vorsatz eine Lüge über mich verbreitet, der soll seinen Platz im Höllenfeuer einnehmen.“ [10] Wenn wir uns Mühe geben, uns in allen Wissenschaftsbereichen bestmögliches Wissen anzueignen, im Islam hingegen nichts überprüfen, dann ist das ein Zeichen spiritueller Inkonsistenz.

Die fatalen Folgen dieser Fehlentwicklung in der Dawah kann man anhand einiger praktischer Beispiele aufzeigen. Es erreichen uns Anfragen, aus denen ersichtlich wird, dass MuslimInnen Zweifel am Islam hegen, da sie durch wissenschaftliche Wunder die Gewissheit über den Islam erreicht haben, aber in ein Dilemma zurückfallen, weil sie beispielsweise erfahren haben, dass der embryonale Vorgang schon durch die alten Griechen in ähnlicher Weise beschrieben wurde.

Meine Empfehlung ist daher: Nehmen wir eine Beruhigungspille, lernen die Wissenschaft und lassen den Qur’an für sich sprechen und unsere Herzen berühren.

 

Referenzen:

[1] Selin, Helaine, Encyclopedia of the History of Science, Technology and Medicine in Non-Western Cultures, Seite 455–456.

[2][3] http://www.aqidah.com/creed/articles/mevrk-shaykh-salih-al-fawzan-on-the-study-of-the-scientific-miracle.cfm

[4] Jona 2:7

[5] http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgi-bin/etcsl.cgi?text=t.1.8.1.4#

[6] Sahih Muslim, Hadith Nr. 3391 (Aus der englischen Übersetzung)

[7] Okasha, Samir: Philosophy of Science, Seite 1–2.

[8] Ruse, Michael: Darwinism Defended, Seite 322.

[9] Rehman, Jalees: Searching for Scientific Facts in the Quran: Islamization of Knowledge or a New Form of Scientism?

[10] Sahih Bukhari, Hadith Nr. 3461

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