Die Frage nach dem Übel und Leid auf der Erde hat im Laufe der Menschheitsgeschichte viele dazu verleitet, die Existenz Gottes anzuzweifeln. Besonders ab dem Zeitalter der Aufklärung im 17. Jahrhundert, wodurch der Skeptizismus emanierte, wurde die Theodizee immer mehr das zentrale Gegenargument zum theistischen Weltbild. Wie können ein barmherziger und allmächtiger Gott und das Vorhandensein von Übel und Leid koexistieren? Die islamische Tradition bietet hierfür eine umfangreiche Antwort, wodurch das „Problem des Übels“ zum „Problem des Skeptikers/Atheisten“ wird.

Existiert Übel?

Dass Übel existiert steht außer Frage. Aus unserer persönlichen Erfahrung können wir dessen Resultate in verschiedenen Formen psychisch sowie physisch wahrnehmen. Dennoch gibt es Lehren, wie den Pantheismus oder den Buddhismus, die das Übel als Illusion bezeichnen. Wenn man zudem mit einer atheistischen Brille durch das Leben wandert und alles Existente auf Materie und Energie beschränkt, sollten Übel und Leid genauso Fiktionen sein. Richard Dawkins, ikonischer Vater der Neuen Atheisten, schreibt hierzu in einem seiner Bücher Folgendes: „Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, mit denen man rechnet, wenn dahinter kein Plan, keine Absicht, kein Gut oder Böse steht, nichts außer blinder, erbarmungsloser Gleichgültigkeit.“ [1] Ironischerweise beklagt er sich jedoch im selben Buch über das Leid und Übel, das durch die Religionen emanierte. Diese Inkonsistenz ist keine Seltenheit in den Reihen der Neuen Atheisten. Die Prämissen hierbei sind, dass Gut und Böse relativ seien und keiner objektiven, ontologischen Grundlage bedürfen, wodurch die Existenz Gottes irrelevant werde. Und wenn die Existenz Gottes irrelevant wird, ist alles erlaubt. Demzufolge wäre die Ermordung eines Kleinkindes nichts anderes als eine Neuanordnung von Molekülen und Atomen.

Moralisches & natürliches Übel

Das moralische Übel bezieht sich auf das durch menschliche Handlungen entstandene Übel, wie Töten, Missbrauchen, Foltern, Erpressen, Entführen, Bekriegen … All diese Handlungen liegen im Rahmen des menschlichen freien Willens. Das moralische Übel wird im Qur’an wie folgt beschrieben: „Unheil ist auf dem Festland und im Meer erschienen wegen dessen, was die Hände der Menschen erworben haben, …“ (30:41). Die Hände der Menschen waren der Grund, weshalb im Jahr 2013 mehr als sechs Millionen Kinder in Afrika verhungern mussten [2], während im darauffolgenden Jahr Nahrungsvorräte für anderthalb Erdplaneten produziert wurden [3]. Offensichtlich sind wir nicht in der Lage, die Gaben Gottes gerecht aufzuteilen, aber sehr wohl dazu fähig, mit dem moralischen Zeigefinger Gottes Existenz in Frage zu stellen. Obwohl sich das moralische Übel in unserem Alltag häufiger manifestiert, wird bei der Theodizee-Frage auf das natürliche Übel hingewiesen. Das betrifft natürliche Ereignisse, die nicht unmittelbar vom Menschen ausgehen, wie Naturkatastrophen oder Krankheiten.

Das Problem des Übels wird zum Problem des Atheismus

Warum Gläubige in die Enge gedrängt das Gefühl entwickeln, Antworten liefern zu müssen, wenn sie mit der Theodizee-Frage konfrontiert werden, ist mir unerklärlich. Abgesehen davon, dass dieses Scheinargument keine Barriere für die Existenz Gottes darstellt, wird dadurch auch in keiner Weise weder ein schlüssiges noch ein probabilistisches Argument aufgestellt. Daher sollte festgehalten werden, dass die Frage nach dem „Problem des Übels“ und die Frage nach der „Existenz Gottes“ zwei separate Fragen sind und nicht zusammengefügt werden sollten. Aber tun wir dem Atheisten den Gefallen und denken uns Gott für einen Moment aus dem Bild. Nun die Frage: Welche Antworten hat der Atheismus für das Übel und Leid auf Erden? Das Übel wird nicht inexistent, wenn wir aufhören, an Gott zu glauben. Ganz im Gegenteil. Das letzte Jahrhundert sollte uns gelehrt haben, welche Antworten der Atheismus liefern kann. Atheistische Diktatoren wie Mao Tse-Tung, Pol Pot, Wladimir Lenin oder Josef Stalin waren innerhalb einiger Jahrzehnte für den Mord an über 100 Millionen Menschen verantwortlich. Ideologien wie der Darwinismus haben die Gedanken der Diktatoren, wie beispielsweise von Josef Stalin, geformt. Er rechtfertigte seine „Säuberungen“, indem er behauptete, der natürlichen Selektion dabei zu helfen, sich schneller zu entfalten. [4] Adolf Hitler hatte zwar eine religiöse Rhetorik, begründete jedoch seine Konzentrationslager mit der Höherentwicklung des Stärkeren. [5] Wenn wir also den Versuch wagen, die Antworten nach dem Übel und Leid in der atheistischen Weltanschauung zu finden, stoßen wir unumgänglich auf einen rassistischen Ansatz, der inakzeptabel ist.

Die Antwort des Qur’an

Die Theodizee stellte in der sunnitischen Gelehrsamkeit zu keiner Zeit die Existenz Gottes in Frage. Einer der Hauptgründe dafür war das Negieren eines rein rationalen Zugangs zur Weisheit hinter dem geschehenen Übel. In Diskussionen mit Misotheisten wird das sehr deutlich. Das Übel wird aus einer subjektiven Brille negativ beurteilt und Gott wird als limitiertes Wesen betrachtet, das jene Ereignisse genauso rationalisieren soll wie sie es tun. Sie sind quasi Kleinkinder, die die Erziehungsmethoden ihrer Eltern kritisieren, ohne deren Absicht und Weisheit zu kennen. An diesem rationalen Zugang versuchte sich auch eine Sekte aus dem 8. Jahrhundert namens Mutaziliten. Sie postulierten einen ausschließlich rationalen Zugang, um das Problem zu lösen. Der schottische Islamwissenschaftler William Montgomery Watt schrieb über sie: „Sie versuchten, mithilfe einer hybriden Theologie eine Brücke zwischen dem Qur’an und der griechischen Philosophie zu schlagen – und sahen sich mit dem Problem des Übels in ihrer eigenen Literatur konfrontiert. In sunnitischen Schriften kam dies nur selten vor.“ [6]

Bevor wir jedoch über die vollkommene Weisheit Gottes (hikmatun baalighatun) sprechen, ist ein Prinzip in der sunnitischen Theodizee unumgänglich, und zwar, dass das rein Böse nicht existiert. Jedes Böse, ob natürlich oder moralisch, beinhaltet gewisse Elemente des Guten, auch wenn wir dieses Gute nicht unmittelbar wahrnehmen können. Einer der größten sunnitischen Theologen, Ibn Qayyim, schreibt: „Das Übel als unabhängiges Phänomen ohne jegliche Dimension des Guten existiert in dieser Welt nicht. In unserer Existenz gibt es nichts, was vollkommen schlecht genannt werden könnte, denn jedes Übel in dieser Welt ist aus irgendeiner Perspektive gut. So schadet eine Krankheit dem Körper zwar einerseits, andererseits ist sie aber auch eine Prüfung der Geduld, ruft Widerstandsfähigkeit hervor und kann sogar das Immunsystem stärken. Mit den meisten unerwünschten Dingen verhält es sich so; sie sind niemals völlig frei von Nutzen für den Menschen.“ [7]

Aus islamischer Perspektive ist also Gott Derjenige, Der das Übel aus Seiner vollkommenen Weisheit erschaffen hat und es zulässt: „Sprich: ‚Ich nehme meine Zuflucht beim Herrn des Frühlichts vor dem Übel dessen, was Er (Gott) erschaffen hat‘“ (113:1–2). Dafür gibt es verschiedene Gründe, auf die ich noch eingehen werde. Was wir jedoch festhalten können, ist, dass selbst wenn wir die Weisheit nicht unmittelbar kalkulieren, fassen oder erkennen können, eine göttliche Weisheit dahintersteckt.

Attribute Allahs

Im Islam werden die Attribute Gottes nicht isoliert betrachtet. Gott ist nicht nur allmächtig (al-Aziiz) und barmherzig (ar-Rahiim), um in der Lage zu sein, Übel abzuwenden, sondern auch allweise (al-Hakiim), wodurch Er durch gewisse Übel Gutes hervorbringt. Im Qur’an sagt Gott: „… Aber vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht ist euch etwas lieb, während es schlecht für euch ist. Allah weiß, ihr aber wisst nicht“ (2:216). Gott weist hier auf unsere limitierte Wahrnehmung hin. Mit anderen Worten: Allah sieht das gesamte Bild und somit das Resultat eines scheinbaren Übels, und wir nur das Pixel. Jeder Versuch, aus einem Pixel ableiten zu wollen, was das gesamte Bild aussagt, wäre zum Scheitern verurteilt. Zudem ist Gott der Allgerechte (al-Adl) und lässt kein Übel unbeantwortet, ob im Diesseits oder als Belohnung im Jenseits: „Oder meinen diejenigen, die böse Taten verüben, dass Wir sie denjenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun, gleichstellen sowohl in ihrem Leben als in ihrem Tod? Wie böse ist, was sie urteilen!“ (45:21).

Diese transzendente Weisheit wird in der Erzählung von Moses – Friede und Segen mit ihm – und al-Khidr im Qur’an verdeutlicht (18:66–81). Welche Weisheit könnte dahinterstecken, dass ein Boot zerstört wird, dessen Besatzung dadurch beinahe ertrinkt? Welche Weisheit könnte dahinterstecken, dass ein unschuldiger Junge getötet wird? All diese – auf den ersten Blick – Schandtaten werden in der Geschichte von Moses und al-Khidr enthüllt. Aus der Geschichte wird klar ersichtlich, dass die Zerstörung des Bootes die Besatzung davor schützte, von einem ungerechten König überfallen zu werden und die Tötung des Jungen eine Barmherzigkeit für ihn und seine Eltern war, weil Gott wusste, dass er in seinen späteren Jahren sich und seinen Eltern viel größeres Leid zufügen würde.

Dieser holistische Zugang zu den Namen und Attributen Gottes gibt Muslimen eine immense Emanzipation und ein Gottesbewusstsein. Das wird auch in den Worten des Propheten Muhammad – Friede und Segen mit ihm – deutlich: „Wunderbar ist die Angelegenheit des Gläubigen. Wenn ihm etwas Gutes widerfährt, ist er zufrieden, und es ist gut für ihn. Und wenn ihn ein Übel trifft, ist er geduldig, und es ist gut für ihn.“ [8] Diese Lebenseinstellung zu verinnerlichen verhindert zwar kein Übel, aber es ist eine Win-win-Situation im Hinblick auf alle Hindernisse im Leben. Auch Boxer Muhammad Ali – möge Allah mit ihm zufrieden sein –, der sich als den Größten feiern ließ, realisierte die Wichtigkeit des Gottvertrauens, nachdem bei ihm das Parkinson-Syndrom diagnostiziert wurde: „Gott gab mir diese Krankheit, um mir zu zeigen, dass nicht ich der Größte bin, sondern Er.”

Der freie Wille

Wie würde eine Welt ohne Übel und Leid aussehen? Eine Welt, in der jedes arme Kind einen vollen Magen bekommt, kein Amokläufer in der Lage wäre, den Abzug zu drücken, jeder Virus im Körper eines Erkrankten auf der Stelle abstürbe. In dieser „perfekten Welt“, wo Gott in die Existenz eingreift und jedes Übel verhindert, wären wir nichts anderes als programmierte Roboter. Wir wären fehlerlos, jedoch gezwungen, ausschließlich Gutes zu tun und Gutes zu denken. Infolgedessen würde die Frage aufkommen: Welchen moralischen Wert hätte dann eine gute Tat? Wenn dir jemand eine Pistole an den Kopf hält und dich zwingt, einen Armen zu speisen, könnte man dann noch von einer guten Tat sprechen? Das Gute ebenso wie das Böse verlieren nach diesem Prinzip jegliche Bedeutung, da wir stets das Gute wählen müssten.

Warum Gott dem Menschen überhaupt erst einen freien Willen gegeben hat, wird dadurch verständlich, dass Muslime das Leben als eine Prüfung für das Jenseits sehen. Eine Prüfung würde jedoch ihren Sinn und Zweck verlieren, wenn die Prüfungsfragen schon im Vorhinein mit allen korrekten Antworten ausgefüllt sind. Im Qur’an erwähnt Gott genau das: „Jede Seele wird den Tod kosten. Und Wir prüfen euch mit Schlechtem und Gutem als Versuchung. Und zu Uns werdet ihr zurückgebracht.“ (21:35). Wie wir diesem Vers entnehmen können, sind Prüfungen durch Gutes und Böses möglich. Durch Letzteres nicht, weil Gott die Menschen leiden sehen möchte, sondern weil diese Hindernisse die Gläubigen auf ihrem Weg ins Paradies stärken werden: „(Allah) Der den Tod erschaffen hat und das Leben, auf dass Er euch prüfe, wer von euch die besseren Taten verrichte; und Er ist der Erhabene, der Allvergebende“ (67:2).

Der freie Wille ist eine große Barmherzigkeit von Gott. Er gibt uns dadurch eine Möglichkeit, die selbst die Engel nicht bekamen, damit wir uns aus freien Stücken dem Guten zuwenden und somit Seiner Rechtleitung folgen können. Ohne diese Willensfreiheit wäre das Leben absurd, da wir lediglich wie eine Feder im Wind wären, ohne Kontrolle, ohne Verantwortung, ohne Fehler.

Das Streben nach dem Jenseits

Muslime glauben an ein Konzept des Jenseits, wo das Endziel die Hölle oder das Paradies sein wird. Es wird ein individueller Ausgleich aller Taten in der Genauigkeit eines Stäubchens stattfinden, und keiner Seele wird Unrecht getan. Diese für Atheisten aberwitzige Vorstellung ist für gläubige Menschen ein immenser Ansporn, auf ein ewiges Leben ohne Übel und Leid hinzuarbeiten, durch das jedes erlittene Leid auf Erden in genauem Maß entschädigt werden kann. Für den Atheisten hingegen gibt es bei keinem erfahrenen Leid, wie dem Verlust des Augenlichtes, an einem schlimmen Virus zu sterben oder unter durch ein Erdbeben verursachten Trümmern zu krepieren, kein Licht am Ende des Tunnels. Es existiert keine absolute Gerechtigkeit, wodurch man auch nichts zu befürchten haben sollte. Ob man einen Menschen umbringt oder einhundert, ist schlussendlich das Gleiche, da der Ausgang in jedem möglichen Fall lediglich die eigene Inexistenz werden wird. Zudem wird auch jede Errungenschaft im Leben, jeder Beitrag zur Menschheit irrelevant, da letztlich der Tag völliger Inexistenz kommen wird. Dieses Leben ist daher aus muslimischer Sicht als eine wichtige Reise, jedoch nicht als Ziel zu betrachten. Gott sagt im Qur’an: „Dieses irdische Leben ist nichts als ein Zeitvertreib und ein Spiel; die Wohnstatt des Jenseits aber – das ist das eigentliche Leben, wenn sie es nur wüssten“ (29:64). Auf dieser Reise werden Geduld und Gottvertrauen belohnt. Daher sollten wir nicht ausschließlich in guten Zeiten Gottes gedenken, sondern auch in Zeiten der Erschwernis: „Und unter den Menschen ist manch einer, der Allah nur am Rande dient. Wenn ihn Gutes trifft, so ist er damit zufrieden; trifft ihn aber eine Prüfung, dann kehrt er zu seinem (früheren) Weg zurück. Er verliert diese Welt so gut wie die künftige. Das ist der deutliche Verlust“ (22:11).

Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit … Dieser Ratschlag geht in erster Linie an diejenigen, die versuchen, das Problem des Übels als Beweis gegen Gott aufzustellen, aber selbst das Problem nicht lösen, sondern nur verlagern. Die islamische Theodizee hingegen bietet vernünftige Ansätze, von denen ich einige wenige erwähnt habe. Die göttliche Weisheit, der freie Wille, das Leben als Test und das Jenseits als individueller Ausgleich sind einige dieser Ansätze, welche durch den Qur’an belegte, vernünftige Zugänge sind. Wenn also jemand meint, er hätte die Welt frei von Übel und Leid erschaffen, wenn er Gott wäre, dann entgegne ihm: Das hättest du getan, wenn du Seine Allmacht hättest. Hättest du zudem Seine Weisheit, würdest du alles so lassen, wie es ist.

 

REFERENZEN:

[1] Dawkins, Richard: Der Gotteswahn, o. O., Ullstein, 2016, Seite 151.

[2] http://www.worldhunger.org/world-child-hunger-facts/

[3] http://www.huffingtonpost.com/eric-holt-gimenez/world-hunger_b_1463429.html

[4] https://evolutionnews.org/2012/12/darwinism_and_s2/

[5] Turek, Frank: Stealing from God, o.O., NAV PR, 2014, Seite 120.

[6] Alston, William: The Inductive Problem of Evil, Seite 99.

[7] Elshinawy, Mohammad: Why do people suffer?, Seite 10.

[8] Sahih Muslim, Hadith Nr. 2999

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